Michael, wie lief das Stromgeschäft in den 1990-er Jahren, als du ins Geschäft eingestiegen bist?
Die Grundfesten waren die gleichen. Produktion, grenzüberschreitender Austausch, Netze und Endkunden. Die Wertschöpfungskette war eingebettet in ein Monopol, d.h. es gab keine Konkurrenz und die Aktivitätsgebiete der Stromunternehmen für Produktion, Netz und Kunden waren durch Konzessionen festgelegt und fix. Mobile Telefonie und PCs wurden in den Firmen ab 1990 eingeführt.
Was geschah dann?
Über Europa, erarbeitet von der jungen Europäischen Union in Brüssel, zog eine Welle des wirtschaftlichen Neoliberalismus, der Monopolstrukturen aufbrechen sollte, um sie in den freien Markt zu führen. Margaret Thatcher, die damalige Premierministerin Englands war führend in der Umsetzung dieser Tendenz und dies in verschiedenen Bereichen wie die Liberalisierung der Märkte vieler Sektoren, Eisenbahn, Strom und vieles andere. Sie hat diese Sektoren nicht nur liberalisiert, sondern viele Staatsbetriebe auch privatisiert. In Skandinavien wurde zu dieser Zeit der Strommarkt liberalisiert. Alles ausser der Netzinfrastruktur.
Was hat sich mit der Liberalisierung verändert?
Die Tendenz war in Europa klar: weg von der sozialen Marktwirtschaft hin zum freien Wettbewerb. Erwartungen an den Markt sind Effizienz, Transparenz, Preisdruck, Ansporn und Platz für Innovation. Dies war gekoppelt mit dem Streben nach einem europäischen einheitlichen Marktplatz. Zuerst wurde der europäische Grosshandelsmarkt geschaffen mit den ersten Strombörsen, nach und nach wurde auch der Endkundenmarkt liberalisiert mit der Einführung eines Wahlrechts des Lieferanten für die Kunden. Gleichzeit hielt die Digitalisierung generell Einzug und hat auch den Strommarkt geprägt. Heute wissen wir, dass die Bilanz durchzogen ist. Preissenkungen haben sich nicht eingestellt, die Märkte sind komplexer geworden und die Staaten haben wegen der nationalen strategischen Wichtigkeit von Energie und Strom wiederholt in das Marktgefüge eingegriffen und diesen verfälscht. Massive Subventionen für Erneuerbare und die Dekarbonisierung – wichtige und richtige Stossrichtungen – werden diesen Markt weiterhin beeinflussen.
Die Strombörsen sind ja immer wieder in der Kritik – der Handel dort wird oft mit Spekulation gleichgesetzt – berechtigt?
Der internationale Markt macht sowohl physikalisch wie kommerziell Sinn. Er ist auch der Versorgungssicherheit der Länder in Europa zuträglich. Diesen Markt zu organisieren, effizient zu gestalten und aufrecht zu erhalten geht nur über eine Börse. Auch die Schweiz ist eingebettet in das Stromeuropa. Diese Tatsache ist ein wichtiger Teil unserer Schweizer Versorgungssicherheit. Das geht in der Diskussion oft vergessen. Mir ist wichtig zu betonen: Eine Handelsplattform ist nicht gleichzusetzen mit einem Spekulanten Pool. Wenn beispielsweise mein Kollege als Landwirt seine Kartoffelernte bereits im Frühling verkauft, spekuliert er dann oder sichert er nur sein Einkommen ab?
Ein anschauliches Beispiel, danke! Bei der Schaffung der Strombörsen hatte man sich damals für ein sogenanntes «energy-only» System entschieden. Das heisst: es geht nur um die Frage der Strommenge und nicht mehr um die Frage der Versorgungssicherheit. Von einer potentiellen Mangellage ging lange niemand aus. War dieses Marktdesign rückblickend sinnvoll?
Im Nachhinein sind wir immer schlauer. Das Modell war vor rund 20 Jahren sicher gut angedacht. Wir leben aber nicht in einer statischen Welt. Die riesigen Subventionen, der massive Leistungsabbau steuerbarer Leistung in Europa, die Schwierigkeiten mit dem Netzausbau, die grosse Masse an stochastischem Strom im Netz haben diesen Markt in der Zwischenzeit massgeblich verändert und gestresst. Zudem hat das angewandte Pricing Modell des Grenzkosten basierten Merit-order keine Investitionsanreize ohne Subventionen gesetzt. Aus Abbauen ohne strukturierten Zubau folgt über kurz oder lang eine Mangellage.
Was geschieht, wenn wir das Marktdesign so belassen?
Nun, eine Anpassung des Marktdesign ist eine europäische Angelegenheit und das wird Zeit brauchen. Belassen wir es bei der heutigen Situation, werden wir die oben beschriebenen Unzulänglichkeiten des Marktes jedoch nicht beheben können. Ein grosses Manko wird bleiben, nämlich dass ohne Subventionen und andere Sicherheitszugeständnisse niemand investiert.
Was gibt es für Alternativen?
Es ist nicht neu, dass man über Auktionen von Kapazitäten und «Contracts for Diffenrence» spricht. Auch eine Diskussion, zwei Merit-Orders zu schaffen, um die Korrelation vom Gaspreis zum Strompreis zu brechen ist angelaufen. Ein Patentrezept gibt es nicht. Gerne schaue ich, was Kalifornien als krisengeschüttelter Staat unternimmt. Sie verfolgen interessante Ansätze wie die Produktionsauktionen. Auch wir müssen Verbesserungen anbringen.
Was braucht es deiner Einschätzung nach?
Wenn wir von der Schweiz sprechen, brauchen wir unbedingt mehr Gradlinigkeit, Mut und Kohärenz. Den Endkundenmarkt halb öffnen; gleichzeitig Klimaneutralität propagieren und Gaskraftwerke bauen; gute Initiativen abwürgen, weil sie nicht europakompatibel sein sollen; Markt predigen und einen Eingriff nach dem anderen in diesen vornehmen; dies sind nur einige Beispiele von halben Sachen, die uns nicht weiterbringen.
Wenn du 3 Wünsche frei hättest in Bezug auf den Strommarkt, was würdest du hinzaubern?
Erstens: Dass wir rasch über einem klimaneutralen Produktionspark verfügen, der Grundlage einer guten Versorgungssicherheit ist. Zweitens: Dass sich der kommerzielle Teil des Strommarktes wieder der physikalischen Realität nähert und drittens: Dass die Marktgestalter sowie Parlamente und Regierungen - in den Ländern und in Brüssel - weniger einfach glauben, sondern wieder mehr rechnen.